Für traumatisierte Kinder sind Bücher ein Ort der Fantasie
Rund 50 Kinder aus Flüchtlingsfamilien nehmen an der DRK-Leseförderung teil – Bedarf ist groß
Wenn die drei Lesepatinnen der DRK-Leseförderung vor der Wohnungstür stehen, leuchten ihnen erwartungsvoll Kinderaugen entgegen. „Die Kinder freuen sich auf die Bücher als seien es Weihnachtsgeschenke. Manche lesen ein Buch von sich aus noch viermal bis zum nächsten Treffen. Sie entwickeln sich zu richtigen Bücherwürmern“, berichtet Lesepatin Hanaa Badra. Die DRK-Leseförderung ist im Januar 2021 gestartet und richtet sich speziell an vier- bis achtjährige Kinder geflüchteter Familien. „Das Projekt unterstützt die Integration und Teilhabe geflüchteter Menschen. Es fördert das Zusammenleben“, sagt Buket Dagdelen, Sozialpädagogin des DRK Darmstadt. Die DRK-Leseförderung wird im Erstwohnhaus für Geflüchtete in Otto-Röhm-Straße und in der Lincoln-Siedlung durchgeführt. In die Projektentwicklung sind maßgeblich Buket Dagdelens Erfahrungen aus Familienbildungsprogrammen eingeflossen, die das DRK Darmstadt seit rund 20 Jahren anbietet. Finanziell getragen wird die DRK-Leseförderung von Fördermitteln des Deutschen Roten Kreuzes in Berlin, vom Adventskalendererlös der Darmstädter Lions Clubs und vom Preisgeld des Ludwig-Metzger-Preises 2021 der Sparkasse Darmstadt.
Bücher, die stark und selbstbewusst machen
Das Konzept der DRK-Leseförderung besteht aus individuellen Terminen bei den Familien zu Hause und Gruppentreffen mit mehreren Kindern. „Wir besuchen die Kinder einzeln einmal wöchentlich für jeweils eine halbe Stunde und lesen gemeinsam ein Buch“, erläutert Hanaa Badra. „Bei den Gruppentreffen besprechen wir die Bücher mit mehreren Kindern.“ Unter der altersgerechten Bücherauswahl gibt es überwiegend Bücher, die der Sprachentwicklung der Kinder dienen, aber auch Titel, die ihre psychische Entwicklung fördern. „‚Ich kenne dich nicht, ich gehe nicht mit!‘ ist ein Buch, bei dem die Kinder lernen, nein zu sagen. Das sie stark und selbstbewusst macht. Es ist interessant, welche Lehren die Kinder daraus ziehen“, so Hanaa Badra.
Von Woche zu Woche mehr Sprachkompetenz
Darüber hinaus erwerben die Kinder von Woche zu Woche mehr Sprachkompetenz. „Sie kommen ursprünglich aus Afghanistan, Eritrea, dem Iran, der Türkei oder aus Syrien. Viele Kinder konnten zu Beginn kaum Deutsch. Sie lernen aber sehr schnell. Wir lesen den Kindern nicht nur die Bücher vor. Spielerisch prüfen wir auch, ob sie das Gelesene verstehen. Wir malen und basteln zu den Geschichten“, sagt die Lesepatin. „Die Bücher sind für die Kinder ein Ort der Fantasie.“ Damit ist durchaus ein Zufluchtsort gemeint. Denn viele der Kinder haben bei der Flucht aus ihrem Ursprungsland traumatische Erfahrungen machen müssen. „Die Geschichten zeigen den Kindern auch die schönen Seiten des Lebens.“
Lesepatin mit tiefem Verständnis für geflüchtete Kinder
Hanaa Badra hat selbst einen Fluchthintergrund. Sie stammt aus Syrien und war Grundschullehrerin in Damaskus. Zu Beginn des Syrienkrieges flüchtete sie zunächst in die Türkei. Auch dort, im Flüchtlingslager in einer notdürftig eingerichteten Schule, unterrichtete sie Kinder. Noch vor der großen Fluchtwelle kam sie 2014 nach Deutschland. Sie spricht mehrere Sprachen: Arabisch, Deutsch, Englisch und Türkisch. Neben ihrer beruflichen, pädagogischen Qualifikation, ihrem kulturellen Verständnis, den persönlichen krisengeprägten Erfahrungen und der sprachlichen Vielseitigkeit ist sie als Mensch – wie alle Lesepatinnen der DRK-Leseförderung – beliebt bei den Kindern.
„Durch die DRK-Leseförderung wird den Kindern Zuwendung und Struktur gegeben, die sie von ihren oftmals traumatisierten Eltern nicht erhalten. Sie erzählen anderen von ihren Erlebnissen in den Lesestunden. Gerade an den Gruppentreffen stehen manchmal Kinder weinend vor der Tür, weil sie aus Kapazitätsgründen nicht daran teilnehmen können. Viele stehen auf der Warteliste“, schildert Buket Dagdelen. „Der Bedarf ist groß und wir sind glücklich, das Projekt mithilfe der Fördermittel zunächst bis April 2022 durchführen zu können. Dadurch sind die Kosten für die Lesepatinnen und die Bücher gedeckt.“ Für die Familien der teilnehmenden Kinder ist das Angebot kostenfrei. „Wir führen die DRK-Leseförderung im Rahmen unserer Sozialarbeit durch. Einnahmen generieren wir daraus nicht, sondern sind weiterhin auf Spenden angewiesen, über die wir uns sehr freuen.“
Weitere Auskunft über die DRK-Leseförderung gibt Buket Dagdelen, E-Mail: buket.dagdelen(at)drk-darmstadt.de, Telefon 06151 3606-652.